Entgegnung zum Gastkommentar von Harald Uhlig im Handelsblatt vom 12. März 2009

Lesehilfe für einen Spickzettel

Sehr geehrter Herr Uhlig,

Sie haben der Bundeskanzlerin einen „Spickzettel“ zukommen lassen, in dem Sie versuchen, gute Argumente gegen weitere Konjunkturpakete zusammen zu tragen. Wären Sie so freundlich, diesem Spickzettel folgende Zeilen als ergänzende Lesehilfe für die Bundeskanzlerin beizufügen?

1. Da ich mit Ihnen, Frau Merkel, an derselben Universität dasselbe Studium absolviert habe, bin ich ziemlich sicher, dass Sie Blanchard-Illing nicht gelesen haben. Da ich vor einigen Jahren wie Sie die Fachrichtung gewechselt habe, wenn auch mit einem anderen Ziel, bin ich inzwischen in der Lage, dieses Buch zu beurteilen: Ein wirklich schönes Lehrbuch der Makroökonomie, das mit einfachen Gleichungen und eben solchen Diagrammen die schwierigsten ökonomischen Probleme löst, also wunderbar geeignet ist für einen Einführungskurs in die Ökonomik. Einem Lehrbuch kann man aber nur die allgemeinen Zusammenhänge entnehmen und versuchen, die entsprechenden Erkenntnisse auf die aktuelle Situation anzuwenden. Das hat Harald Uhlig in Punkt 1 seines „Spickzettels“ versucht, allerdings hatte ich den Eindruck, dass er einen anderen Blanchard-Illing gelesen haben muss als ich. Zu der in den USA gerade initiierten enormen Ausweitung der Geldmenge passt folgende Stelle: „Expansive Geldpolitik kann beispielsweise der Wirtschaft helfen, eine Rezession zu überwinden und schneller zum natürlichen Produktionsniveau zurückzukehren. Die Neutralität des Geldes ist jedoch eine Warnung, dass es nicht möglich ist, durch den Einsatz von Geldpolitik eine dauerhaft höhere Produktion zu erreichen.“(1) Zwei Seiten weiter vergleichen die Autoren die kurz- und mittelfristigen Wirkungen einer expansiven Geldpolitik mit einem „Abbau eines Budgetdefizit“; dreht man die Richtung der Wirkungen um, kann man dem Text leicht entnehmen, was bei einem Konjunkturprogramm passiert, nämlich kurzfristig ebenfalls eine Stimulierung der Produktion. – Es gibt also durchaus „prominente Beispiele“ von Textbüchern, „die für Rezessionen deutlich mehr empfehlen als die ‚automatischen Stabilisatoren’“. Harald Uhlig hat selbst eines genannt.

2. Die Empfehlung an die Bundesregierung, in der gegenwärtigen Situation einfach nichts zu tun und die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen, könnte von einem Wachmann stammen, der glaubt, auf die Feuerwehr verzichten zu können, weil man erst einmal die Wirkung der Sprinkleranlage abwarten sollte – während der Supermarkt bereits in hellen Flammen steht. Selbst die Europäische Zentralbank, die seit Jahren den EU-Mitgliedern als Ersatz für das Instrument Zinspolitik die automatischen fiskalischen Stabilisatoren empfiehlt und darauf hinwirkt, dass für deren effektives Wirken die Voraussetzungen geschaffen werden, geht unter bestimmten Bedingungen darüber hinaus: „Die automatischen Stabilisatoren reichen unter Umständen zur Stabilisierung der Wirtschaft allein nicht aus, wenn wirtschaftliche Ungleichgewichte nicht von normalen Konjunkturschwankungen herrühren oder als unumkehrbar angesehen werden. In solchen Situationen können von diskretionären finanzpolitischen Maßnahmen auch erwünschte angebotsseitige Impulse ausgehen.“(2) Hinzu kommt, dass Deutschlands Wirtschaft vor allem von einem Exporteinbruch betroffen ist, bei dem die automatischen Stabilisatoren weniger effektiv sind als bei einem schockartigen Rückgang des privaten Konsums, (3) mit dem wir es bislang aber noch nicht zu tun haben.

3. Sicher, die Wirkungen fiskalpolitischer Maßnahmen wurden in der Vergangenheit vielfach überschätzt. Übrigens waren es vor allem Theoretiker, die an Multiplikatoren von 1,5 und mehr glaubten. Empirisch gesehen gibt es aber immerhin einen Selbstfinanzierungseffekt, der je nach Art der wirtschaftspolitischen Maßnahme bei 40 und mehr Prozent liegt. Man kann also durchaus davon ausgehen, dass die kräftigen Konsum-, Investitions- und Entlastungsbeiträge, die mit den Konjunkturpaketen I und II (sowie mit der Rückzahlung der Pendlerpauschale) von Staat, Ländern und Kommunen gegeben werden, in der Wirtschaft ankommen. Ob die (gut gerechnet) 1,2 Prozent zusätzliches Wachstum, die durch die verschiedenen Maßnahmen im Jahr 2009 angeregt werden, reichen werden, um einen prognostizierten Rückgang des BIP von jedenfalls mehr als 2,25 Prozent auch nur abzudämpfen, kann man zwar bezweifeln, aber um „verbranntes Geld“ handelt es sich keinesfalls. Und nicht ganz unwichtig dürfte es für eine Bundeskanzlerin wohl auch sein, dass die zusätzliche Verschuldung um mindestens ein Drittel geringer ausfällt als der erzielte Effekt.

4. Dass Steuersenkungen wirksamer sind als staatliche Investitionen, konnte das Team, dem ich angehöre, nicht nachvollziehen.(4) Im Gegenteil! In Bezug auf die Beschäftigung gesehen bringen staatliche Investitionen den doppelten bis dreifachen Effekt. Trotzdem bleibt es richtig, dass staatliche Investitionen aufgrund der Anlaufzeiten nicht ganz so schnell ins Werk zu setzen sind wie Steuerentlastungen – zumal wenn entsprechende Planungen fehlen sollten.

5. Dass „aufgrund höherer, zukünftiger Steuerbelastungen“ „die Bevölkerung“ – ich möchte ergänzen: relativ – „verarmt “ und sich deshalb „veranlasst“ sieht, „härter zu arbeiten“, ist möglicherweise eine blendende Idee, aber eben nur die Idee eines Theoretikers, insbesondere für all jene, die sowieso hart arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen, also weder Spielraum noch Gelegenheit haben, so zu reagieren. Ergänzend hätte Uhlig aus der „Schatzkammer der Theorien“ (W. J. Patzelt) noch die „Idee“ hervorkramen können, dass die Bevölkerung angesichts zukünftig zu erwartender Steuererhöhungen spart und also weniger konsumiert – eine Befürchtung, für die es aber gegenwärtig auch keine Anhaltspunkte gibt. Hinsichtlich der zu erwartenden Effekte von Konjunkturpaketen scheint mir ein anderer Sachverhalt von größerer Bedeutung, dass nämlich ein schnelles Gegensteuern in der Krise ein Herabfallen auf ein noch tieferes Niveau verhindert und damit die beste Voraussetzung für höhere Steuereinnahmen in der Zukunft darstellt – auch ohne die Steuersätze zu erhöhen.

6. Erwähnt werden auch einige neuere Arbeiten über die Weltwirtschaftskrise 1929-32. Einmal abgesehen von der wiederum unverkennbaren Theorielastigkeit dieses Hinweises, könnte man sich auch mit einigen durchaus lesenswerten historischen Darstellungen beschäftigen. Dabei wird man schnell eines lernen: Die Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts ist wirklich ein denkbar schlechtes Beispiel, wenn man Ihnen einreden will, dass defizitfinanzierte Ausgabenprogramme keine Wirkung haben. Die Amerikaner haben im New Deal eine ganze Reihe von Programmen aufgelegt, die – so muss man wohl annehmen – durchaus zur Überwindung der Krise beigetragen haben, wenn auch flankiert durch Maßnahmen auf dem Gebiet des Geld- und Kreditmarktes.(5) Dabei dürfte es wohl keine Rolle spielen, dass wir heute das Defizit bewusst in Kauf nehmen (müssen), während sich damals das Staatsdefizit wider Willen einstellte.

7. Summa summarum: Spickzettel, die vereinzelte theoretische Erkenntnisse, die unter gewissen vereinfachenden Bedingungen durchaus zutreffen mögen, zusammenstellen, sind mit Skepsis zu betrachten. Wie Harald Uhlig selber einräumt, lassen sich leicht auch „Spickzettel“ mit entgegen gesetzter Tendenz fabrizieren.

Literatur
1) Olivier Blanchard / Gerhard Illing: Makroökonomie. München 2007. S.221.
2) EZB, Monatsbericht April 2002, S. 41.
3) Anne Brunila, Marco Buti, Jan in’t Veld: Cyclical Stabilisation under the Stability and Growth Pact: How effective are automatic stabilisers? Bank of Finland Discussion Papers 6/2002. S. 20.
4) Vgl. Ullrich Heilemann, Stefan Wappler, Georg Quaas, Hagen Findeis: Finanzpolitik zwischen Konsolidierung und Konjunkturstabilisierung. In: Wirtschaftsdienst. 2008/9, S.591.
5) Charles P. Kindleberger: The World in Depression. 1929-1939. S. 291 ff.

Zum "Spickzettel" Harald Uhligs